Ich vertraue dir total und ich liebe dich bedingungslos.
Bei vielen von uns, mich eingeschlossen, schwirrt irgendwo im Kopf diese Idealvorstellung herum und entfaltet ihre subtile Wirkung. Nämlich fühlen wir uns unterschwellig ein bisschen unzulänglich und beschämt, weil wir dem Anspruch nicht genügen können, dem nächsten Menschen in unserem Leben total vertrauen und ihn bedingungslos lieben zu können. Ein guter Grund, diesem Anspruch etwas auf den Zahn zu fühlen.
Ich vertraue dir total und ich liebe dich bedingungslos.
Möglicherweise hat das Ideal seine Wurzeln in den ersten Tagen unseres Aufenthalts auf dieser Erde, als wir als vollkommen verletzliche Wesen darauf angewiesen waren und deshalb total darauf vertrauen mussten, dass wir genährt, umsorgt und bedingungslos geliebt wurden. Sonst hätten wir nicht überlebt.
Ich vertraue dir total und ich liebe dich bedingungslos.
Wie ist es jedoch für mich heute als erwachsenen Menschen, möchte ich das? Oder denke ich, ich sollte das, weil ich andernfalls misstrauisch, voller Vorbehalte wäre – also ein schlechter Liebespartner? Hmm.
Und was würde es denn überhaupt bedeuten? Davon auszugehen, dass «du», mein Gegenüber, immer ehrlich und freundlich und offen bist, mich nie im Stich lässt, nichts vergisst, nie zu spät kommst, nichts tust, was mich irritiert und nervt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das möchtest. Nein, auch ich kann und will das nicht. Und erst recht nicht umgekehrt, dass du zu mir sagst:
Du vertraust mir total und liebst mich bedingungslos.
Das setzt mich nur unter Druck. Ich bin manchmal nervig, kompliziert, ungeduldig, vergesslich und mühsam, ich werde dich enttäuschen. Vertraue mir ja nicht blind. Ich will deine Wut, deine Trauer, deine Angst, deine Unsicherheit, deine Vorbehalte und Grenzen, dein gesundes Misstrauen. Ich will deine Grenzen spüren, wenn mein Verhalten sie missachtet. Ich emfange sehr gerne deine Liebe, aber du brauchst nicht alles von mir zu lieben.
Ich will ein authentisches Gegenüber.
Und ich will menschlich unperfekt sein können.
Wenn ich in eine Haltung von Vertrauen zu dir gehe, heisst dies: Ich öffne mich für dich, ich gehe immer wieder neu auf dich zu, ich will erfahren, wer du bist, wie du bist. Ich bringe meine Unvollkommenheit und Verletzlichkeit mit und bin bereit, die deine auszuhalten, auch wenn sie mich herausfordert. So kann ich erkennen, was mein mitgebrachtes Misstrauen, meine unbewussten Erwartungen und meine Ängste sind. Wenn auch du diese Haltung einzunehmen bereit bist, bin ich sehr dankbar.
So können Vertrauen und Liebe zwischen uns allmählich wachsen und sich vertiefen – weder total noch bedingungslos. Welche Erleichterung!
Mit herzlichem Frühlingsgruss
Alexander